An die Liebe

I      Die Liebe kennt keinen Tod, denn sie ist das Leben!


II      Die Seele Gottes ist aus Anbeginn in ihr. Wie sollte sie je sterben können!


III      Sich hinzugeben ist ihr innerstes Sein. Sie umfasst alles, nur sie ist
Sehnsucht und Erfüllung zugleich.


IV      Ach, könnten wir erfassen, wie rein sie ist! Ahnen wir diese Reinheit
nicht am tiefsten in der allumfassenden Natur?


V      In Sternennächten neigt sie ihren Blick zu dem, der
zu ihr aufschaut. Und ein Engel singt in ihrem Lichte eine Weltenmelodie.


VI      Ihre Fülle breitet sie über alle Dinge – selbst über den Tod – und berührt
dabei namenlos die Ewigkeit.


VII      Ist sie nicht die seligste der Wirklichkeiten, wenn sie – als Knospe
in uns erwacht – leuchtend erblüht!


VIII      Lass ihren göttlichen Glanz in dich eingehen und erkenne: Es ist ewiges
Schicksal, dass ein Göttliches in uns walte!


IX      Dieses Göttliche ist der „Weltinnenraum“ in uns, der auch den Flug des
wandernden Zugvogels lenkt, im Geheimnis der ewigen Schöpfung.


X      Wie weit sind wir in der Liebe aller Einsamkeit voraus, denn nie könnten
wir im Widerglanz des Himmels einsam – verlassen sein!


XI      Wenn Liebe sich entzündet – als ewiger Strahl – dann ist’s, als ob der ganze
Himmel auferstrahle, weil er uns an das Ewig-Schöne bindet.


XII      So bin ich dein!
O ewige Liebe, ich fühle es: Wer deiner Kraft vertraut,
der wird – im Leben wie im Tode – von einem ewig-neuen Morgenrot
betaut!


Der Zyklus über die Liebe ist allgewaltig und als Kondensat von frappierender Wirkung.

Schon der Anhub besitzt gleichermaßen Allgewalt und Sensitivität, führt in geistige und emotionale Höhen. Er liest sich als Steigerung der paulinischen Apotheose: „Die Liebe hört niemals auf“. Deine Aussage ist nochmals größer, da sie mit den Wörtern „Tod“ und „Leben“ die Maximalamplitude des Seins umfasst.

Und in der zweiten Strophe wird die Erläuterung zu dieser unendlichen Eigenschaft der Liebe geliefert. So könnten diese beiden Strophen als Solitäre stehen bleiben und selbst ein in sich geschlossenes, vollständiges Opus bilden.

Wunderschön in Strophe III die Umdeutung des Wortes Thomas Manns: „Sehnsucht und Erfüllung“. Was, wenn nicht die Liebe könnte diese sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften in sich vereinen und harmonisieren.

Dann – und hier zeigt sich die übergeordnete Verwandtschaft aller Deiner jüngeren zyklischen Werke – mit dem Ausruf „Ach!“ die Zuwendung zu den Menschen, der ihrer ersehnt und ein zweiter großer, dieses Mal geografischer Bogen von der Herrlichkeit der Natur auf Erden bis empor zu den Sternen. Wie die „Fontänen des Glücks“ oder ein Regenbogen baut sich hier der Doppelbogen auf: Tod – unendliches Sein; Himmel – Erde. Und abermals höher bis zur englischen Sphäre – invertierte Kaskaden.

Mit dem Wort „Fülle“ scheinst Du hernach auch die Breite all dessen auszumessen. Wie Maria den Mantel, breitet die Liebe sich aus über alles. Wunderschön.

Dann plötzlich zum Kleinsten, zum Zartesten – auch dies Verwandtschaft mit Deinen anderen Zyklen: Die liebe erwacht als Knospe. Wunderbar auch die Verwandtschaft zu die zwei Versen auf der Einladung zu unserem Konzert im Schloss Jägerhof. Der Blick inwärts wird verdichtet durch den in den Leser „eingehenden Glanz“ und den „Weltinnenraum“, ein Begriff, um den Dich Wagner beneiden würde.

Das Bild des vom Göttlichen gelenkten Zugvogel lässt an Dein Gedicht „Wildgänse“ denken, das gleichfalls so phantastisch ist und ein Geheimnis bar jeder wissenschaftlichen Erklärbarkeit in die Wunder der Natur senkt – „geheimnisvoll aus eingeborenem Wissen“.

Der Schluss ist so bewegend, da die finale Strophe die persönlichste ist. War es zuvor ein „Wir“ mit einer Sehnsucht nach der Fassbarkeit des Wesens der Liebe, ist es nun das „Ich“. Die Ausruf „Ich bin dein!“ – abermals emphatisch wie im Tristan – ist eine ewige Hochzeit.

Dass die beiden Finalstrophen plötzlich mit Endreimen arbeiten, ist rhetorisch ein wunderbares Mittel. Es bewirkt eine Art Ritardando, und unmittelbar spürt der Leser, dass der Dichter die Schlussphase einleitet. So ist es auch bei guten Kompositionen: Urplötzlich weiß der Hörer, dass der Schluss bevorsteht, selbst wenn das Musikstück noch minutenlang andauert.

Das ultimative Bekenntnis zur Liebe durch das lyrische Ich ist ungleich intensiv, und das Bild des ewig vom Morgenrot betaut Werden ist es gleichfalls. Wie bei den alten Ägyptern die göttliche Sonne auf auf ewiges Leben verweist, ist es wenig später Christus selber, der als ewige „Sonne der Gerechtigkeit“ aufgeht, als ewiges Licht oder „Morgenglanz der Ewigkeit“ – eben als „lumen Christi“. In dem Bild des morgenrotlichen Taus verweist Du um so schöner auf die Göttlichkeit der Liebe. Bei den Ägyptern fängt hier die gesamte Schöpfung an zu jubeln und zu singen.

Die Strophenzahl zwölf ist ebenfalls großartig gewählt; denn nicht nur die ist die Zwölf numerologisch hochgradig aufgeladen; auch ist die Zwölf mathematisch eine der interessantesten Zahlen – unter den natürlichen allemal. Sie hat für einen solch niedrigen Zahlenwert staunenswert viele Teiler und ist eine „erhabene“ Zahl. Ferner (das musste ich nochmals nachschlagen) ist sie „Kusszahl“ und „Størmer-Zahl“ und weist wundersame weitere Besonderheiten auf. In Deinem Zyklus jedenfalls bewirkt sie durch all die Teilbarkeiten perfekte Proportion wie inhaltliche Verdichtung.