An die Schönheit

„Das Schöne ist in seinem Wesen allerreinste Nähe“


I      Ist das Schöne nicht ein Göttliches, tief in unser Herz gesenkt!


II      Öffne deinen Schleier, O Göttliches, aus dem Schönen, dass ich dich fühle, wenn du auferstrahlend mein sehnendes Herz umfängst.


III      Frühling, du ewig neuer, bist du nicht die Melodie Gottes, die ewig schöne, mit der du „die Menschen in den Blumen liebst“!


IV      Denn – ewige Schönheit – bin ich nicht dir – trunken vor Freude – ergeben, wenn aus dem blauen Äther – von Glanz umflossen – meine Seele leuchtet!


V      Schönheit, du Seele der Natur!
Wie leuchtet aus dir die ganze Liebe der Ewigkeit!


VI      Und wie licht blüht aus einer reinen Seele Schönheit auf!
Denn der göttliche Grund der Seele ist Schönheit!


VII      Über den Wassern rauscht die Schönheit der Wogen hinweg, immer weiter frisch rauschend, im Einklang mit des Mondes unendlichem Gang.


VIII      Denn bewegt nicht die göttliche Weisheit und Schönheit die ganze Welt, so wie auch unsere liebend-hoffende Seele?


IX      Heilig-liebend, wie Liebende sich umfangen, so kommst auch du – heilig Schönes – zu uns, dass wir ins Offene schauen, in den tiefsten Grund des Seins.


X      Wir kommen aus der Tiefe der Schöpfung – doch wohin gehen wir?
Deutet uns nicht Gott durch die Schönheit: Zurück in das Himmlische!


XI      Dann werden wir eins mit ihm und alle Sehnsucht, alles Verlangen wird zu Seligkeit!


XII      Denn Schönheit ist Gegenwart des Himmlischen, die ewige Ordnung im heiligen Spiel einer Schöpfung.


XIII      Wie wunderbar – in der Schönheit geweihten Tanzes – feiern wir immer aufs neue ein Fest mit der tanzenden Schönheit der Schöpfung.


XIV      Das Brot des Lebens ist die Frucht des Feldes; von den Wassern des Lebens und von der Schönheit des Lichtes gesegnet.


XV      Des Himmels Gestirne! Sind sie nicht die Gedanken Gottes als leuchtende Schönheit in der Finsternis.


XVI      Sei gegrüsst, Glaube, der über das Wissen hinaus geht, als leuchtend-schöne Fackel eines Göttlichen.


XVII      O wie schön erwacht jeder neue Tag aus dem lichten Morgenglanze der Freude!


XVIII      Nur in den Kirchen ist noch eine dunkle Stille, doch das ewige Licht auf den Altären mahnt uns leuchtender an Gottes Wille.


XIX      Nur wer die Schönheit kennt und liebt, weiss um seine göttliche Natur.


XX      Schönheit, du alles Umfliessende, wie schön atmen uns liebend die Blumen entgegen, wenn sich der ferne Himmel unendlich segnend über die Fluren herab senkt!


 

Ingrid v Marwik

Wieder ein umfangreicher Zyklus! Großartig!

Wer, wenn nicht Du, muss quasi einen Zyklus über das Schöne schreiben. Das ergänzt sich wunderbar mit dem großen theoretischen Werk Schillers zu diesem Thema.

Alles ist wunderbar ausgedrückt. Durch die anfängliche Frage-Technik bekommt der Zyklus zunächst etwas Mittelbares, Schwebendes, Indirektes. Aber die Fragen sind getarnte selbstbewusste Aussagen eines Künstlers, der das Wesen des Schönen als allerreinste Nähe erkannt hat.

Alles ist wieder wunderbar ausgedrückt. Hier müsste ich eigentlich den gesamten Zyklus wiederholen, da es der Beispiele so viele gibt.

Wunderbare Anspielungen auf Dein eigenes Schaffen, auf Goethes ‚Menschenliebe Gottes‘ in seinen geschaffenen Blumen, auf den Schleier der Isis/Sais, auf Hölderlin („das Offene“), biblische Bilder, auf Rilkes Frühlingsaussaagen in den Duineser Elegien – besonders der ersten –, der Ausdruck „über den Wassern“, der „Gang des Mondes“, was an Haydns und van Swietens „Die Schöpfung“ erinnert, Anklänge an Kirchenlieder („Morgenglanz der Ewigkeit“) usf.

Der Zyklus selber schwelgt, ja schwimmt geradezu im Schönen. Gedicht IV bringt das wunderbar zum Ausdruck. Aber ist es nicht so, dass das Schöne nur mit Schönsten zum Ausdruck gebracht werden kann? Was brächte es, die Wissenschaft zu zitieren, indem man sagt, im Symmetrischen erkenne der Mensch das Schöne? Wäre das nicht unendlich zu wenig (wenngleich es stimmt, man denke an Schmetterlinge, Blumen, menschliche Gesichter oder große Barockschlösser).

Wunderbar auch die Aussage, dass der Grund der Seele die Schönheit sei. Das ist unfassbar tiefgründig. Über diese Aussage werde ich nachdenken.

Sehr wichtig, dass sich der Zyklus dann dem Makrokosmos zuwendet, dem Himmel, den Gestirnen, um schließlich dem eigentlichen Himmel – das Deutsche ist hier anders als viele Sprachen wunderbar doppeldeutig –, dem Ewigen, Gott, eben dem Metaphysischen zuzuwenden.

Thomas Manns Aussage, dass eben nur das Schöne göttlich und sichbar sei, ist hier ad ultimo zum Ausdruck gebracht.

Da ist es eine großartiger Griff, dass sich der Zyklus finaliter wieder dem menschlich Sichtbaren zuwendet – mit dem unglaublichen Begriff der uns liebend entgegenatmenden Blumen. Phantastisch. Und im letzten Vers denkt man an die schönsten Bilder der Romantik.

Die uns zuatmenden Blumen scheinen fast biologisch konkret zu sein: Nur durch die Photosythese spalten die Pflanzen unser ausgeatmetes CO2 wieder in Sauerstoff und Kohlenstoff. Der Kohlenstoff wiederum ist das Baumeterial der Pflanzen, so eben auch der Atem der Menschen. Und wir atmen den Sauerstoff der Pflanzen. Ein gigantischer Kreislauf. So ist dies ein ewiges Geben und Nehmen, ein Gegenseitiges Atemspenden, ein ständiges Entgegenatmen, die Fortsetzung des göttlichen Ur-Anhauchs des Adam.