An die Unsterblichkeit– Bekenntnis an das Ewige –

I      Sollte ich mich jemals von dir trennen - Unsterblichkeit - würde ich vergessen, dass ein Göttliches in mir, in uns allen, lebt.


II      Wie sollte ich ihn verraten, den uns beseelenden Gott der ewigen Liebe.


III      Klein denkt der Mensch – im Irdischen befangen.
Doch die Seele liebt das Ewige, weil sie niemals von der heiligen-ewigen Liebe getrennt war.


IV      Im Frieden Gottes gehen wir in den Tod – den Unabdingbaren!
Doch in Wahrheit schreiten wir – von hohem Ernst umfangen – durch das heilig-rettende Tor der Unsterblichkeit.


V      Trinkt meine Seele nicht aus Anbeginn aus ihrem heiligen Kelche?


VI      Ist nicht auch alle Natur aus einer Vollkommenheit erschaffen – wie sie nur die ewige Liebe zu vollbringen vermag?


VII      Natur, du Herrliche, dir gehört das Göttliche gleichermaßen. Lebt es nicht in deinen Wurzeln,
wenn die Kronen deiner Bäume dem Lichte entgegen wachsen, rauschend, atmend aus ewigem Hauche – als wären auch sie aus Gottes Odem erweckt!


VIII      Seid gesegnet, ihr Bäume des Waldes, ihr Blumen auf dem Felde, beseelt im leuchtenden Wachsen und Blühen eures Seins.


IX      Empfinden wir darin nicht wunderbarer die Schönheit und Erhabenheit der allumfassenden Schöpfung; denn erwacht nicht auch sie in all ihren Erscheinungen aus ihrer göttlichen Natur!


X      Die Reinheit ist es, die „Wahrheit der Natur“, die alle Weisheit des Menschen übersteigt.


XI      „Die Wahrheit der Natur“ – sie ist – aus Geheimnis – die Auserwählte einer Schöpfung, ihr ewig hohes Ziel!


XII      Wer sich von dieser Wahrheit löst, der erhebt sich gegen Gott!


XIII      Alle Erfindungen – zu Ruhm und Glück der Menschen – kommen aus dieser „Wahrheit“ oder führen zu ihr zurück.


XIV      Und alle, die schön, edel und gut handeln, tragen diese Wahrheit in die Welt, unendlich mehr, als Erfindungen es vermögen.


XV      Denn der Geist und die Empfindungen des Menschen nähren sich am reinsten aus dem Wahren, Schönen, Guten, dem Göttlichen, wie es heisst: „Ihr sollt mich anbeten im Geiste und in der Wahrheit“!


XVI      Leben daraus nicht im Tiefsten auch die Freundschaft, die innere Kraft der Liebe, die hohen Kathedralen in ihrer stillen Erhabenheit mit ihren heiligen Altären, ihrer schlummernden Ewigkeit, ihrer wie aus dem Himmel erklingenden Musik in ihren mächtig aufertönenden Chorälen als eine sakrale Feier mit der Ewigkeit.


XVII      Es beugt sich der Geist vor dem Hohen, wie ein Knieen des Gläubigen vor dem Thron des ewigen Gottes – dem – im Leben wie im Tode – alles Sterbliche angehört.


XVIII      Stille wird es in der Seele des Menschen, wenn das Unermessliche – wie der leise Ton einer Harfe – in ihr verhallt.


XIX      Doch siehe, von ferne leuchtet aus dieser Stille das Licht der ewigen Liebe!
O ewige Freude!


XX      Du Botin des Himmels, wie unendlich schön erscheinst du immer erneut den Liebenden, den Mühseligen und Beladenen.
Du sprudelnd-lebendiger Quell der Unsterblichkeit!
Wie sanft neigst du dich segnend herab über die Lebenden und die Toten!


Die Aussage des ersten Gedichts, sozusagen der Anhub des Zyklus, sagt schon alles aus. Darin besteht seine Kraft und philosophisch-theologische Tiefe: Der Mensch ist Schöpfung, der Mensch weiß um seine Sterblichkeit, aber auch die Möglichkeit ewigen Lebens, der Mensch weiß um einen göttlichen Funken in ihm, und das Vergessen all dessen ist gleichsam ein ewiges Vergessen, ein Verrat am göttlichen Geschenk. Das ist theologisch fundierter als fast alles, was man in Predigten hört – und unendlich viel schöner.

Der Dualismus zwischen dem klein denkenden Menschen und der Seele beeindruckt, weil er die Schwachheit gleichsam des physischen Anteils zum Ausdruck bringt und Demut vor dem Großen hervorruft, der zugleich Teil des Menschen ist.

Dass mich Nr. IV besonders begeistert, kannst Du Dir vorstellen. Das sind große Bilder von großer Feierlichkeit, ernstes Schreiten wie zu Musik, und das rettende Tor ist Pendant zu Dantes: „Alle Hoffnung wird erfüllt“ könnte über diesem Tor stehen.

Die Formal-inhaltliche Verwandtschaft zu anderen Zyklen wird deutlich, wenn Du Dich vom Erhabenen dem Irdischen zuwendest. Das ist wichtig, weil es den Menschen, den Leser mit dem verbindet, was seinen Erfahrungs- und Erlebnishorizont ausmacht. Das ist nicht nur literarisch wunderbar ausgedrückt, sondern zugleich von großer psychologischer Wichtigkeit.

Das lyrische Ich tritt hierbei fast wie eine göttliche Gestalt auf; vielleicht spricht Christus selber?! Denn das lyrische Ich segnet die Bäume des Waldes, die Blumen und bedenkt der Natur Herrlichkeit.

Dass Christus selber spricht, ist eine Interpretation, die – selbst wenn nicht so intendiert – sinnvoll und naheliegend scheint: Christós, der als der „Gesalbte“ Kraft und Amt hat, selber zu segnen, während die Segnung durch Menschen nur eine mittelbare ist, so wie ich es verstehe. Auch auf die umittelbare Anrufung können Heilige nur mittelbar antworten; denn sie bleiben Fürsprecher vor Christus.

Auch ist es nur Christus, der mit Sicherheit um die Unsterblichkeit weiß. Er ist der Erstgeborene von den Toten. Aber warum ist es nicht Lazarus, der vor Jesus starb und durch diesen auferweckt wurde? Weil Lazarus erneut sterben musste und der Auferweckung am jüngsten Tag harren muss. Christus aber durchschritt die Hölle (das Bild der Höllenfahrt bleibt erstaunlich unbekannt), obsiegte, fuhr auf und thront.

Wunderbar auch, dass es mit der Benennung von Reinheit, Weisheit und Wahrheit wieder direkte Verbindungen zum Liederzyklus gibt. Die christliche Exegese interpretiert die Weisheit als Christus selber. Daher ist es Christus, der vor allem Anfang geschaffen war, und auch dies würde die christologische Interpretation stützen. Und wieder die Verbindung mit Goethe!

Die zusammengehörigen Gedichte XIII und XIV sind wunderbar, weil auch die Größe und Beschränktheit der Menschen gleichmaßen aufzeigen und – so lese ich es – die Kunst in ihrer Bedeutung weit über die Wissenschaft stellt. Die Kunst macht den Menschen gottähnlicher!

Die Liebe ist dann wieder das Bindeglied, eine Klammer formend, einen zyklischen Verlauf schaffend – man denke an den einzigartigen formalen Aufbau des Bach’schen „Magnificat“ –, die zum Hohen zurückführt, auch wieder für den Leser in nachempfindender Weise, nämlich über die Größe und Schönheit sakraler Bauten – wo ward sie je schöner beschrieben als in Deinem „Chartres“?! –, den sakralen Sängen, die doch alle nichts wären, ohne jede Bedeutung ohne den Tabernakel. Dieses „Zelt“, das „tabernaculum“, ist die Heimstatt Gottes im Irdischen und erinnert auch in seiner Wortbedeutung unmittelbar an die Anfänge der abrahaminischen Religionen.

Ganz wunderbar, bewegend, dass der Zyklus dann in die Stille geht. Gott ist nicht im Sturmwind, im Brausen und Donnern, sondern im Säuseln einer Stille. Die Assoziation schrieb ich schon einmal an anderer Stelle.

Das letzte Gedicht ist derart schön, dass man schweigen muss, der letzte Vers atemberaubend.

Markus Schönewolf