Eine Geschichte zur Weihnacht

 

Die kleine Mariella von Monteton hatte heute, am 1. Dezember, erwartungsvoll und mit geröteten Wangen das erste Fenster am Adventskalender geöffnet.

Nun war es bis zum Weihnachtsfest nicht mehr weit. Den Adventskalender hatte die Großmutter für die kleine Mariella gefertigt mit 24 bunten Türchen und dahinter verbarg sich für jeden Tag eine andere Überraschung.

Die Großmutter wohnte am großen Walde in einem Haus unter hohen Tannen, aber zum Elternhaus von Mariella war es nicht weit, so dass sie oft zur Großmutter gehen konnte und das tat sie gern, denn sie liebte ihre Großmutter sehr.

Das Haus am Waldesrand war im Sommer von Fliederbeeren und wilden Rosen umgeben, die in manchem Jahr bis in den Winter hinein blühten.

Es hatte sogar einen Holzstall und eine Tränke für die Tiere und die Rehe des Waldes kamen dorthin und tranken das klare Wasser, und im letzten Jahr hatten sie sogar in der Heiligen Nacht – „vielleicht auch mit einer heiligen Scheu“, so hatte die Großmutter gesagt – den Christbaum betrachtet, dessen Lichter durch das Fenster bis zu den Rehen strahlten.

Und weil Mariella und die Großmutter die Tiere des Waldes liebten, streuten sie ihnen im Winter, wenn der hohe Schnee lag, frisches Heu hin; das brachte ihnen der Förster, weil er ihre Liebe zu den Tieren kannte.

In der Adventszeit spielte die Großmutter auf dem Klavier für Mariella die schönen Advents- und Weihnachtslieder und welch glückselige Erwartung verband sich allein mit dem Lied: „Lasst uns froh und munter sein und uns recht von Herzen freu’n“, denn der Nikolaus hatte sie immer bedacht und sie hatte sich oft gewünscht, ihn einmal zu sehen, wenn er des Nachts, aus dem großen Walde kommend, in ihr Zimmer stapfte, aber es war ihr noch nie gelungen.

 

Denn sie wusste, dass der Nikolaus und auch der Weihnachtsmann aus dem großen Walde kamen, der in der Heiligen Nacht in hellem Glanz erstrahlte, wenn das Christkind in dieser stillen, hohen Nacht aus dem Himmel zur Erde herab flog und die Sterne über dem Schnee so hell funkelten, um ihm auf seinem Wege zu leuchten.

Doch der Weihnachtsmann zeigte sich den Menschen am Heiligen Abend und sie dachte an das Bild in ihrem Weihnachts-Märchenbuch. Dort blickten die vier Kinder dem Weihnachtsmann so scheu erwartungsvoll entgegen und nach der Bescherung – so sagte die Großmutter – würden die Kinder in ihrer Freude wohl am liebsten das Gloria mit den Engeln Gottes singen wollen und das konnte Mariella gut verstehen!

 

Denn die kleine Mariella wusste, dass die Boten Gottes, die Engel, die frohe Weihnachtsbotschaft in der Heiligen Nacht durch die ganze Welt tragen, das gehörte zum Weihnachtsgeheimnis und es erfüllte ihr Herz mit unauslöschlicher Freude!

Sie war selbst einmal zur Weihnacht als ein „kleiner Engel“ mit goldenen Flügeln in das Weihnachtszimmer getreten – das hatte sich die Großmutter als Überraschung für die Eltern ausgedacht – und Mariella hatte ein weißes, langes Kleidchen als Engelsgewand getragen, mit einem Goldreif auf ihrem Kopf, an dessen Stirnseite ein goldener Stern befestigt war und die goldenen Flügel hatte die Großmutter selbst gefertigt und Mariella trug ein Licht in der Hand, eine echte, brennende Kerze, deren Glanz sich in ihren leuchtenden Augen widerspiegelte, als sie – begleitet von der Großmutter am Flügel – das Lied anstimmte: „Vom Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch gute, neue Mär …“.

Die Eltern hatten andächtig-still diesem Gesang gelauscht, berührt von der zarten Kinderstimme und den Worten des hehren Liedes, sie fühlten die kindliche Gläubigkeit und der Weihnachtszauber, der im Stall von Bethlehem einst geboren wurde, erfüllte den Raum. Das Herz von Vater und Mutter wurde so seltsam weit, als sie im Gesang ihres Kindes zugleich eine tiefere Wahrheit spürten, etwas Hohes, das uns Menschen nur dann zuteil wird, wenn uns die „ewige Liebe“ nahe kommt, sie, die den Urgrund allen Seins und auch den Grund unserer Seele bildet.

Und an eine andere liebevolle Überraschung erinnerte sich Mariella, die diesmal die Eltern ihr bereitet hatten.

Im Sommer, als ihr Vater einmal durch den Wald gegangen war mit seinen hohen, alten Bäumen und der Waldwiese, die bis an den Garten des Elternhauses reichte, hatte er einst einen winzigen Vogel auf dem Waldboden gefunden, er war wohl aus dem Nest gefallen, noch ganz nackt und bloß und ohne Federn und der Vater hatte den kleinen Vogel behutsam aufgehoben und nach Hause getragen.

Dort wurde ihm ein kleines Nest bereitet, mit weichen Blättern und Gräsern ausgepolstert, und der Vater suchte Ameisen und kleine Insekten und fütterte damit das Vöglein und wenn es genug bekommen hatte, gab es einen ganz leisen Pieplaut von sich, den nur der Vater hören konnte, weil sein Ohr so dicht am Schnabel des kleinen Vogels war und das kleine Vöglein gedieh, seine Federn, die ihm nun wuchsen, nahmen eine immer schönere Farbe an und eines Tages war aus dem Vöglein ein wunderschöner Dompfaff geworden.

 

Er war zwar ein wenig zarter, als andere Vögel seiner Art, aber das lag wohl daran, dass es so mühsam gewesen war, ihn aufzufüttern, das konnte eine echte Vogelmutter sicher besser, aber dafür bekam das Vöglein einen großen Vogelbauer, dessen Tür immer offen stand und nur zum Schlafen in der Nacht kam das Vöglein dorthin zurück geflogen, aber auch dann stand das Türchen offen.

Das Vöglein war völlig zahm, es betrachtete den Vater und die Mutter wohl als seine Eltern, aber besonders liebte es die kleine Mariella und Mariella liebte das Vöglein, das gerne und oft auf ihrer Schulter saß.

Besonders aber liebte sie den großen Wald, denn am Waldrand ließ es sich so gut spielen, dort, wo die Waldgeister, die Elfen und Zwerge lebten, die schon manchem verirrten Wanderer in der Nacht geholfen hatten, wie es ihr der Vater erzählt hatte.

Er kannte ihre Liebe zum Walde mit all den wilden Beeren, die dort wuchsen und den Blumen, die im Frühling zu neuer Frische erwachten. Besonders liebte sie die weiß-gesternten Annemonen, die duftenden Veilchen, und die gelben Himmelschlüsselchen, die so golden im Glanze des Himmelslichtes leuchteten und wenn man ein Sonntagskind war – so hatte die Großmutter gesagt – konnte man mit ihnen die Himmelstür aufschließen, denn nur die Sonntagskinder konnten die Himmelsleiter sehen, die zum Himmel empor führte und da Mariella selbst ein Sonntagskind war, hatte sie einmal – wie sie meinte – selbst diese himmlische Leiter gesehen und sehnsüchtig ihre Arme zum Himmel empor gestreckt.

 

Doch weil es so weit war, hatte sie sich noch nicht bis zum Himmelstor empor getraut, obwohl sie gerne einmal die Engel besucht hätte, die dort oben wohnten, die so wunderschöne Flügel hatten und auf einer goldenen Trompete und einer goldenen Harfe spielten und die Himmelsschäfchen hörten diesen himmlischen Klängen zu, die auch Mariella so gerne einmal gehört hätte.

 

Ganz besonders aber liebte Mariella die Tannenbäume, weil sie zur Weihnachtszeit als festlich geschmückte Christbäume in hellem Glanz erstrahlten und dieser Gedanke erfüllte ihr Herz mit Freude.

Die Eltern hatten ihr auch einmal Hans Christian Andersens Geschichte: „Der Tannenbaum“ erzählt, die ihr Herz berührt hatte, als der Tannenbaum in der Christ-Nacht, festlich geschmückt und in strahlendem Glanze, die Schönheit der „Heiligen Nacht“ erlebte und für diese berückende, hohe Stunde sein Leben hingeben musste, aber er hatte im Erleben der Schönheit und Heiligkeit dieser Nacht , gleichsam ins Paradies geschaut, er beendete sein Leben mit dem Gefühl einer Glückseligkeit und war damit in das wahre Paradies eingegangen.

 

Der Vater hatte, weil Mariella den Wald so sehr liebte, darüber nachgedacht, ihr eine besondere Freude damit zu bereiten und hatte nun die Idee, seinem Töchterchen zur Weihnacht den Wald ins Haus zu holen und er besprach dies am Abend des Nikolaustages mit der Mutter.

Diese stimmte lächelnd zu und freudig beschwingt verging die Zeit schnell bis zum Tag vor dem Heiligen Abend.

Mariella war am Morgen dieses Tages zu ihrer Großmutter gebracht worden und die Eltern sagten mit geheimnisvoller Miene, dass Mariella erst am Heiligen Abend, wenn es anfinge dunkel zu werden, zusammen mit der Großmutter nach Hause zurückkommen sollte.

Die Großmutter erzählte ihr mittlerweile die alten, schönen Märchengeschichten von „Elise und den wilden Schwänen“, die sich im Augenblick höchster Not auf den Schinderkarren herabstürzten, der Elise zum Schafott führte und die durch Elises Treue, durch ihr Schweigen und ihre unermüdliche Arbeit an den Nesselhemden vom Zauber erlöst wurden und wieder Menschengestalt erhielten.

Mariella hörte auch das Märchen von „Rapunzel“ mit ihren langen Haaren und sie freute sich immer wieder darüber, wenn der Königsohn rief: „Rapunzel, Rapunzel, lass deine goldenen Haare herunter …“ und alsbald fiel Rapunzels Haar herab und der Königssohn kletterte an den goldenen Haaren empor, schloss sie in seine Arme und zum guten Ende heiratete er sie und sie gebar ein Kind und beide lebten glücklich und zufrieden – und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute!

Und sie hörte auch die Geschichten von „Rumpelstilzchen“ und „Hänsel und Gretel“,

die ihr die Großmutter immer wieder erneut erzählen musste.

Einmal hatte sie eine Aufführung von „Hänsel und Gretel“ auch im Theater gesehen, als sie mit der Großmutter Humperdincks Märchenoper besuchte und da hatte die Hexe noch viel schrecklicher ausgesehen, als in ihrem Märchenbuch, und als die verirrten Kinder mutterseelenallein im dunklen Walde gläubig vertrauend den „Abendsegen“ beteten, da staunte sie, dass auch Hänsel und Gretel dasselbe „Abendgebet“ sangen – so schön, wie die Engel im Himmel – das sie immer zusammen mit der Großmutter sang, wenn sie einmal bei ihr schlafen durfte und leise tönten die Worte in ihrem Herzen: „Abends, wenn ich schlafen geh’, vierzehn Englein um mich steh’n“ … – und sie wusste, dass der liebe Gott nun über die im Walde verirrten Kinder wachen würde, wie er es auch über ihren Schlaf tat!

(Humperdinck – Hänsel und Gretel – Abendsegen – Bielefelder Kinderchor, 1986 – auf YouTube)

 

Die Großmutter zeigte Mariella auch ihr altes Märchenbuch, aus dem ihr dereinst ihre eigene Großmutter die schönen Märchen vorgelesen hatte und Mariella konnte kaum glauben, dass ihre Großmutter einst ein Kind gewesen war – und sie betrachtete das alte Märchenbuch mit großer Ehrfurcht.

 

Vor allem gefiel ihr daraus das alte Bild von Hänsel und Gretel und sie bewunderte den findigen Hänsel, als er der bösen Hexe so geschickt das Stöckchen zeigte, dass sie es für seinen Finger hielt – und auch der schwarze Kater, der hoch oben über Hänsels Kopf saß, merkte es nicht und nur der goldene Mond leuchtete so friedlich über den Bäumen; das beruhigte Mariella, denn es erschien ihr ganz unerträglich, dass der arme Hänsel gefressen werden sollte.

 

Und Mariella staunte auch immer wieder über das Märchen vom „Sterntaler“, als auf das kleine Mädchen in Not und bitterer Armut aus dem Dunkel der Nacht ein leuchtendes Sternenwunder vom Himmel herab fiel, und wenn ein Wunder geschieht, das wusste die kleine Mariella auch, dann kommt es von Gott!

 

Ein Wunder hatte ja auch das „Däumelinchen“ gerettet.

Es war so zierlich und klein, dass eine Walnussschale ihre Wiege war, Veilchenblätter ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Deckbett – aber dann war eine dicke, hässliche Kröte gekommen, deren Sohn sie heiraten sollte; Däumelinchen aber wollte ihn nicht haben und saß nun gefangen auf einem Seerosenblatt. Die Fische jedoch hatten Mitleid mit ihr, nagten den Stengel der Seerose durch und Däumelinchen schwamm davon, lebte im Winter bei der Feldmaus und sollte nun den alten, blinden Maulwurf heiraten; aber auch da hatte ihr der liebe Gott geholfen und ihr die Schwalbe geschickt, die sie gesund pflegte und die flog mit ihr hoch durch die Lüfte in ein wunderschönes Land, wo sie den Elfenprinzen heiratete und fortan mit ihm im Duft eines Blumenkelches lebte.

Mariella freute sich immer wieder über die wunderbare Rettung, wenn sie in ihrem Märchenbuch das Bild „Däumelinchens“ auf dem Seerosenblatt mit dem bunten Schmetterling und den schönen Fischen im Wasser anschaute.

 

Und weil es in den letzten Tagen geschneit hatte und Büsche und Bäume zu einer weissen Märchenwelt geworden waren, blickte Mariella immer wieder zum Himmelszelt empor, in dem „Frau Holle“ wohnte, die ihre Betten ausschüttelte, um die weiche, flockige Pracht über das Land auszubreiten und Mariella war, als blicke in all dem Flockenwirbel das freundliche, liebe Gesicht von „Frau Holle“ auf sie herab.

 

Doch am allerliebsten hörte Mariella die Geschichte: „Wie der kleine „Tim die Weihnachtsfreude fand“, denn diese Geschichte hatte sich die Großmutter selbst ausgedacht!

Und abends vorm Schlafengehen spielte ihr die Großmutter auf dem Klavier das schöne Lied vor: „Morgen, Kinder wird’s was geben, morgen werden wir uns freun’, welch ein Jubel, welch ein Segen, wird in unserem Hause sein. Einmal werden wir noch wach, heißa dann ist Weihnachtstag“ … und Mariella sang dieses Lied mit ihrer zarten, leuchtenden Kinderstimme voller Vorfreude auf den Heiligen Abend und mit einer Glückseligkeit, wie sie der kleine Tim in seiner Weihnachtsfreude nicht schöner hätte empfinden können!

Und dann war der „Heilige Abend“ herangekommen und unendlich still, wie etwas lange Fortgebliebenes, mit ihm der „Friede, der höher ist, als alle Vernunft“.

Als ob das Firmament sich weite – vor der Heiligkeit dieser Nacht – legte sich der Hauch dieses Friedens in feierlich-zarter Berührung über Land und Menschen. Die Großmutter spürte diese zarte Berührung und sie spielte, durchstrahlt vom inneren Glanze dieser Nacht, langsam – wie ein Pilger sich der Hoheit des Göttlichen nähert – das Lied „Nacht und Träume“, ein Lied – in der Seele des Komponisten emporgestiegen, wie aus reinstem Quell – dessen Töne sich in ihrem Innersten entfalteten wie ein Gebet: „Heilige Nacht, du sinkest nieder, nieder wallen auch die Träume, wie das Mondlicht durch die Räume, durch der Menschen stille Brust …“

(Schubert – Lied – „Nacht und Träume“ – gesungen von D. Fischer-Dieskau)

Und es war, als trüge ihre Seele ein Engel auf seinen goldenen Schwingen zur Seele des verstorbenen Großvaters – das Glück von einst erstrahlte in ihrem Herzen. Er, der so lange an ihrer Seite war und ihrer Seele auch jetzt das Geleite gab, wie damals, als er ihr künstlerische Welten geöffnet- und viele, glückhafte Augenblicke geschenkt hatte und – berührt von des Glückes Hauch – spielte sie dieses Lied aus den stillen Kräften dieses Glückes – es schwebte darin der Ton der Liebe, die ein Geschenk gemeinsam erlebter Gegenwart ist – auch über den Tod hinaus!

Und von dieser Liebe wunderbar getragen, fühlte sie sich in einem Größeren aufgehoben – als schwebe ihre Seele wie auf Flügeln eines leise flüsternden Windes zum Herzen Gottes empor, umhüllt vom göttlichen Geheimnis – das uns von einer Seelentiefe raunt, die dem Menschen erst aus einem übergeordneten geistig-metaphysischen Grund zuwächst, der ihm nur dann zuteil wird, wenn er seine Seele der göttlichen Nähe öffnet. Diese Verschmelzung der Seele des Menschen mit der göttlich-schöpferischen Liebeskraft – das wurde der Großmutter nun bewußt – war eine der Natur-Erschaffung ebenbürtige Erschaffung, die sich nun als eine echte Realität in ihrer Seele darstellte, sie spürte – gleichsam wie in einer mystischen Schau – die aus einer überindividuellen Wesenheit fließende unendlich vollkommene Liebeskraft des Göttlichen. „… Und vor deinen Tiefen waren Türen – und sie sind nicht mehr …“ – dieses Dichterwort klang nun auf in ihrem Herzen, sanft wie ein „Frühlingswehen mitten im kalten Winter“.

Ihr war, als sei ihre Seele gleichsam aus einem Strahl Gottes in einem Augenblick erleuchteter Intuition zu Licht geworden. Dieser entrückte Augenblick – auch das wurde ihr nun bewußt – strahlte zu ihr aus einer Dimension höherer Ordnung, einer Ordnung unzugänglicher Tiefe, aus der die vieltausendfache Schönheit von Wahrheiten der Metaphysik immer erneut aufersteht. Verheißung und Glaube waren das tragende Flügelpaar dieses metaphysischen Grundes, der in der Liebe Gottes ruht und wie ein großes Flüstern leise über die Erdgeborenen rauscht.

Und in diesem herrlich Erfühlten erkannte die Großmutter, dass erst aus der unendlichen Tiefe der Seele, aus dem göttlichen Hauche selbst, die Liebe die direkte und unmittelbare Sprache mit Gott ist.

Nicht das irdisch Lastende, nicht die Vernunfterkenntnis, sondern erst die Befreiung davon durch die Inspiration des Gefühls, als Abglanz und Ausdruck des Göttlichen, bringt das innerlich Erschaute zur Erfüllung – auch das erkannte die Großmutter nun – und ihre Seele – so wunderweit – war in den Strahlen des Himmels.

Wie Morgentau auf einer Ebene der Ewigkeit lag diese innerlich entfaltete Schönheit auf ihrem Angesicht, ahnungsvoll, zart, wie eine Rose, die alle tausend Jahre einmal auferblüht.

So licht zu sein von solchem Glanze hob sie ihr Antlitz auf … eine nie gefühlte Wirklichkeit durchwehte sie – unendlich nahend – als höbe sie ein Engel, der sie von allem Anbeginn schon kannte – hinan zu ihrer göttlichen Natur.

Mit leiser Bewegung – wie im Traum eines Traumes – öffnete die Großmutter das Fenster und blickte hinauf zum Sternenzelt.

Als ob das Fernste geschehe – in ihr – ward ein Leuchten ringsum – so silberzart – als fließe der Schimmer von des Engels Lichtgestalt über die Nacht und den schweigend stehenden Wald.

Der heilige Augenblick währte nur kurz – aber ihr war, als läge Ewigkeit darin.

Wie Verheissung raunte es zu ihr, als sich der Engel, so wundersam erhöht, in wachsender Gebärde zu ihr nieder neigte – und sanft die Worte sprach:

„Weißt Du auch, wer ich bin?“

Da wußte sie!

Als leite sie des Engels Hand, schritt sie – inmitten seines Glanzes – hinaus bis an den Waldesrand, auf ihre Atemzüge senkte sich ganz sacht die Sternenstille dieser Nacht.

Und ihre Seele hauchte – so lichtdurchweht -
noch leiser, als ein leisestes Gebet:


„Du bist der Engel Gottes, voller Melodien,
die sich im ewigen Gesang der Cherubim vollziehn.
Du bist der Gast,
der schon die „Nacht von Bethlehem“ erfasst,
der Himmelsbote, der auf schimmerweißen Wegen geht
und kamst zu meiner Armut ausgestreckten Händen,
wie einst der Stern, der unermeßlich über allen Sternen steht.
In seinem Silberstrahle wirst du weiter zieh’n.
Das Wunder der „geweihten Nacht“ ist dir vertraut“.


– Da bebten die Zweige am Waldesrand, durch die sie ins Paradies geschaut. –


(Allegri – Miserere – The Choir of Claire College, Cambridge)

Noch wie geblendet von diesem Allerfassen zog die Großmutter Mariella in ihre Arme.

Wie ein Auferblühen senkte sich das Leuchten dieses wundersam gereiften Augenblicks auch auf die kleine Mariella, als die Großmutter zart ihre Stirne küsste, leise mit ihrer Hand über das Haar des Kindes strich und sein Köpfchen an ihr Herz legte – und Mariella fühlte, dass ihre Großmutter sie liebte und dass sie ihre Großmutter wiederliebte. Dass so viel Liebe in ihnen war – auch das spürten sie beide – das kam von Gott. Für die Großmutter war es der große, erhabene Gott, der sie „berührt“ aus unbekannter, aufgelöster Stunde im „Gruß des Engels“, als wäre Licht für immer, das er aus Liebe weiter trug von Stern zu Stern; der Liebes-Gruß, der niemals sich verliert und nun so leuchtend, tief und klar im tausendfachen Spiegelbilde ihrer Seele lebte – und für Mariella kam sie vom „lieben Gott“, der leise in der Kinderseele seine Wunder tut.

Hatte nicht ein göttliches Kind einst das Licht in die Welt gebracht und den Menschen das Ewige eines Wohlgefallens?

Ein Kind, das Kleinste, Zarteste, war in die Armut eines Stalles geboren worden und hatte die Menschen erlöst!

In einer Nacht – aus ewigen Fernen vorbereitet – war ein Wunder aufgegangen

… einsam … aus heiligstem Empfangen!

 

„Ein Kind so klein und soll die Hoffnung einer rohen Welt doch sein?
Ein Licht umstrahlt es, wie ein heller Kranz,
erfüllt die Erde weit mit seinem benedeiten Glanz.
Und stille hielt die Welt den Atem an in jener Nacht,
als wäre sie aus einem langen, sehnsuchtvollen Traum erwacht.“

Und umhüllt von diesem „benedeiten Glanz“ und im stillen Glanze des Zusammenklangs ihrer Seelen, nahm die Großmutter die kleine Mariella an ihre Hand und ging mit ihr zum Hause der Eltern, dem „Wunder der Heiligen Nacht“ entgegen.

Dort hatte sich viel Geheimnisvolles getan; die Mutter empfing ihr Töchterchen so innig und drückte es an ihr Herz; der Vater war schon im Weihnachtszimmer und bald, aber doch viel zu lang für die erwartungsvolle Mariella, erklang das Weihnachtsglöckchen

im Zimmer, die großen Flügeltüren taten sich auf und Mariella, an der Hand ihrer Mutter und Großmutter, trat in den ihr so vertrauten Raum.

Doch, was war das?

Von einer Sekunde auf die nächste wurde ihre Gefühlswelt in eine andere, übernatürliche Welt gehoben!

Das war nicht mehr der große Raum, den sie kannte, es war der Wald, der Weihnachtswald, in den sie eintrat!

Das große Zimmer war ganz und gar ausgeräumt bis auf den Flügel, der nun in einer Ecke stand und rings im Zimmer standen Tannen, viele, echte Tannen des Waldes und in der Mitte – gerade vor ihren Augen – stand über einem Hügel aus weichem, grünen Moos ein wunderbar geschmückter Christbaum mit goldenen Äpfeln, Kugeln und sogar ein kleiner gläserner Harlekin war auf dem Baum, der spielte auf einer goldene Flöte und Engel, kleine Puppen, holzgeschnitzte Figuren und bunte Zuckerkringel schmückten den Baum und die vielen glänzenden Lichter erstrahlten in überirdischer Pracht.

Mariella bewegte sich nicht, sie wagte kaum zu atmen, die überirdische Erscheinung des Weihnachtswaldes hatte ihre Kinderseele in eine Schwingung versetzt, wie sie nur eine vom göttlichen Geheimnis berührte und von Gott erquickte Seele zu empfinden vermag und so klein Mariella auch war, sie spürte ihn, den Gruß des Engels, der in der Nacht von Bethlehem zum ersten mal zu den Hirten auf dem Felde gesprochen worden war: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch eine große Freude, die allem Volke widerfahren wird …!“ – dieser Gruß, der seit der Geburt Christi von den „Himmlischen Heerscharen“ verkündigt wird in Ewigkeit.

Mariella war unwillkürlich bis zur Krippe geschritten, die auf dem grünen Mooshügel stand. Dort kniete sie in kindlich-gläubigem Staunen vor dem Christuskind nieder, sie blickte in sein zartes Angesicht und ihr war, als leuchteten seine Augen im milden Schein der Kerzen wie zwei vom Himmel herab gesandte Sterne, es lag ein Glanz darin, als streife ihre Kinderseele – wie aus Sternenstrahlen – der Hauch einer heiligen Sphäre, der leise, benedeite Kräftestrom einer Zeit enthobenen Ewigkeit, aus der die Fülle des Friedens der Heiligen Nacht einst zu seiner wundersamen Transzendenz erwachte und aus dem Hauche Gottes weiter lebt für immerdar. Und die Schönheit dieses Friedens, in der die Tiefe dieses heiligen Geschehens geborgen ist, war auch um Maria und Joseph und die Tiere im Stall – und Gottes Weihnachtswelt war noch nie zuvor so tief in ihrem Herzen gewesen wie jetzt beim Anblick der „Heiligen Familie“ im Weihnachtswald.

Und Mariella hatte in diesem Augenblick, ohne dass es ihr bewusst war, eine neue Stufe in ihrem jungen Leben erreicht, in der die Seele zu einer Wahrheit geführt wird, wie sie nur aus der Berührung mit einer „göttlichen Wahrheit“ empfangen werden kann.

Die Eltern und die Großmutter schauten bewegt auf das ergreifende Bild ihres so tief im Herzen berührten Kindes, sie spürten diese heilige Bindung zu einer göttlich wirkenden Liebe, die sie alle umfing.

Als erstes Lied ertönte in dieser Nacht: „Es ist ein Ros’ entsprungen aus einer Wurzel zart …“ und die Töne und Worte dieses hehren Liedes gingen in die heilig schwingende Bewegung dieses Abends ein.

Aber noch ein „Bewohner des Hauses“ hatte sich in dem „Weihnachtswald“ eingestellt. „Es war das wunderzahme Vöglein, das noch nie durch Moos, Gras oder durch einen grünen Baum gehüpft war, es hatte noch niemals den grünen Wald geschaut, in dem seine Eltern einst ihr leichtes Nest gebaut“.

Es kannte ja nur die Zimmer des Hauses und seinen Vogelbauer.

„Doch nun, als der Tannenwald in dem großen Zimmer aufgebaut war, fand sich das Vöglein bald in den Zweigen ein und trippelte und hüpfte, behutsam erst und scheu, dem Rätsel dieses grünen Waldes zu, so lockend schön und neu, doch bald war es in diesem grünen Reich zu Haus und breitete, wie prüfend noch, ganz zart die Flügel aus und wie noch nie vom Käfig sein Gesang ertönt war, erklang er jetzt ganz wunderzart und süß, doch bald so leicht schon und so schmetternd-froh“.

Die Eltern, die Großmutter und Mariella erlebten mit staunender Freude die Entfaltung des kleinen Vogels in diesem neuen Reich und sie sprachen: „Jetzt hat auch unser Vöglein seine „Weihnachtsfreude“ gefunden und so waren alle glücklich miteinander in dem Zauberreich vereint.

Es war ein langer, inniger und der schönste Heilige Abend, an den sich Mariella erinnern konnte, aber dann war es doch so spät geworden, dass sie nun schlafen sollte.

Doch die kleine Mariella konnte sich nicht von dieser Herrlichkeit trennen, nicht eine Minute wollte sie den Zauberwald und den traumschönen Christbaum missen und so kam es, nachdem sie ihre Eltern so inständig darum gebeten hatte, dass die Decke aus ihrem Bettchen auf dem grünen Mooshügel ausgebreitet wurde und Mariella, gebettet wie im Paradiese, im Weihnachtswald unter dem Christbaum schlafen durfte.

Sie dachte beim Einschlafen an den lieben Gott und an die Sterne des Himmels, die in dieser hohen Nacht besonders hell erstrahlen – so wie in ihrem Märchenbuch, als der Weihnachtsmann im Sternenglanz die Puppenstube mit den kleinen Engeln und all den schönen Figürchen betrachtet – und die Sterne schienen wirklich heller zu erstrahlen, so wie einst in der Nacht von Bethlehem, in der noch ein anderer Stern am Himmel erschienen war, der heller leuchtete, als tausend Sterne.

 

Aber noch ein anderer wollte nicht in „seinem Bettchen“ schlafen; es war der kleine Dompfaff, denn – noch ganz berauscht vom neuen Glück – kehrte er zum ersten mal zur Nacht in seinen Vogelbauer nicht zurück.

„Im Baume – hingeschmiegt ans Stämmchen – still und klein – schlief er ganz selig in der grünen Dämmerung ein.

Doch dann – auf einmal – ging ein leises Zittern durch den Körper des kleinen Vögleins und – das Köpfchen unter dem Fittich gebettet – fing es geheim, ganz zart und süß zu zwitschern an.

Im Traum geschah’s und Wald und Waldeswehn schien ahnungsvoll, wie Gottes Hauch, durch diesen Traum zu geh’n.

Im Traume lag des freien Waldes himmel-freie Herrlichkeit auch für das Vöglein nun, so offen, leuchtend und so wunderweit“1

Und es war, als habe das Christkind in der Krippe unter dem Tannenbaum gelächelt, weil es in seiner Liebe zu allen „Geschöpfen Gottes“ das Glück des Kindes und des kleinen Vögleins fühlte. Die ewige Liebe des Heilands leuchtete auf, der durch seine Geburt das Dasein der Menschen verwandelte und verklärte, weil er wusste, dass die Menschen und alles auf der Welt durch den „Hauch Gottes“ beseelt werden und das Glück der Seele sich erst in der Freude, der vollkommenen Freude des innerlich erschauten Glücks, erfüllt.

Und das hatten Mariella und das kleine Vöglein – ein jeder auf seine Weise – in dieser „Heiligen Nacht“ erfahren!


  1. Unter Einbeziehung des Gedichtes „Vöglein“ von Hermann Schmid. ↩︎